Geburtsmodelle: Wie werden Menschen am sichersten geboren?

Welche Geburtsmodelle sind gesünder und langfristig besser für Mutter und Kind?

Hinweis: Der folgende Text wurde im Jahr 2015 von der Mother Hood Wissenschaftsgruppe erstellt. Er ist als Beitrag in unserer Infodokumentenreihe „Was sagt die Wissenschaft?“ erschienen und ist nun Teil unserer Stichwortsuche rund um die Geburt.

Funktionierende Geburtsmodelle

Die Autorin des Originaltextes, Robbie Davis-Floyd, ist Anthropologin. Sie hat die folgenden Kriterien aus einer großen Anzahl unterschiedlicher Quellen (anthropologischer, geburtshilflicher, medizinischer und sozialwissenschaftlicher Literatur aus dutzenden von Herkunftsländern und von unterschiedlichsten Verfassern) herausgearbeitet. Auch die Daten wichtiger internationaler Organisationen, wie der Cochrane Collaboration und der WHO, wurden berücksichtigt.

Kurzversion

Die Autorin belegt, dass eine hochinvasive und hochtechnisierte Geburtshilfe nicht notwendig ist, um Leben zu retten. Vielmehr ist der Ansatz gesünder, billiger und auch langfristig deutlich besser, bei dem Mutter und Kind ganzheitlich und nicht nur zur Geburt, sondern seit der Frühschwangerschaft bis ins erste Lebensjahr des Kindes hinein betreut werden. Die weitverbreitete Geburtskultur, bei der zum Zeitpunkt der Geburt viele Interventionen und ein großer technischer Aufwand nötig sind, senkt weder die Mütter- und Kindersterblichkeit, noch werden dadurch Folgeerkrankungen vermieden.

Funktionierende Geburtsmodelle sind Systeme, die eine geringe Sterblichkeit bei ebenso geringen Begleiterkrankungen aufweisen.

Zitat aus der Einleitung: „Ja, Babys werden geboren und Leben, die sonst vielleicht verloren gewesen wären, werden durch moderne Geburtshilfe gerettet. Aber der Preis, sowohl ökonomisch als auch gesundheitlich und sozial, ist hoch. Und dieser Preis sollte nicht gezahlt werden müssen, denn er beruht auf Falschinformation und Missverständnissen bezüglich der normalen Physiologie der Geburt und darüber, wie diese am Besten zu unterstützen ist. Er entsteht durch ein System, welches versucht, Sterblichkeit durch exzessive Interventionen zu vermeiden. Dabei scheitert es daran zu erkennen, dass diese Interventionen, wenn sie überhand nehmen, unnötige Folgeerkrankungen bei Mutter und Kind verursachen – und in zunehmendem Maße auch genau jene Sterblichkeit, die eigentlich vermieden werden sollte. (…) wie die in diesem Band beschriebenen Modelle zeigen, ist es gar nicht nötig, geringere Sterblichkeit durch höhere Begleiterkrankungen, die notwendigerweise mit den Interventionen einhergehen, zu erkaufen: Schon mit geringeren Interventionen und dafür größerer Unterstützung einer normalen und physiologischen Geburt wird Sterblichkeit vermieden. Wie wir auf diesen Seiten belegen werden, weisen einige wenig-interventionistische Geburtshilfemodelle eine geringere Anzahl an Folgeerkrankungen und geringere (oder gleichwertige) Sterblichkeit auf, als hoch-interventionistische Geburtshilfemodelle.“

Eigenschaften von Geburtsmodellen, die nicht funktionieren

  • Unnötiger, durch Interventionen hervorgerufener physischer, sozialer und emotionaler Schaden, der aus übermäßigem Gebrauch von Medikamenten und Technologien (wie Einleitung, Wehentropf, CTG, Dammschnitt und Kaiserschnitt) resultiert.
  • Nichtbeachtung der wissenschaftlichen Belege, die den Routinemäßigen Einsatz von Interventionen nicht stützen.
  • Nichtbeachtung der wissenschaftlichen Belege, dass humanistische, Frauen-zentrierte und physiologisch Geburtstechniken (wie Begleitung durch eine vertraute Person, aufrechte Gebärhaltungen) zu insgesamt weniger Verletzungen und allgemein besseren Ergebnissen führen.
  • Gestörte Etablierung der Stillbeziehung (durch Einsatz von Medikamenten unter Geburt, Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt).
  • Von einer technokratischen und patriarchalischen Ideologie geprägt, die annimmt, dass Frauenkörper störanfällige Maschinen sind, und dass Geburt ein problematischer und risikoreicher Prozess ist. Durch diese Ideologie rechtfertigen die Geburtshelfer moralisch den übermäßigen Gebrauch von Technologien.
  • Krankenhausregeln und -hierarchien behindern das kreative Denken und die Akzeptanz des wissenschaftlich-belegten und nichtintervenierenden Ansatzes.
  • Fokus auf Status oder ökonomischem Gewinn für Institutionen und Personen anstatt Fokus auf Wohlergehen von Mutter und Kind.
  • Ausbildungsmodelle, die Geburtshelfer (Ärzte und Hebammen) zu einer technokratischen Sichtweise auf Geburt sozialisieren und die Geburtshelfer zu einer Gemeinschaft machen, aus der die Frau in ihrer Obhut ausgeschlossen ist.
  • Informationen, die zu wirklich informierter Einschätzung der Vor- und Nachteile der geburtshilflichen Maßnahmen nicht ausreichen und somit eine fundierte Entscheidung behindern. Versteckter oder offener Druck auf die Frauen, die standardisierten Interventionen des technokratischen Ansatzes zu akzeptieren.
  • Ineffektive Verlegungssysteme für außerklinische Geburten in die Klinik und respektlose oder unmenschliche Behandlung bei Eintreffen im Krankenhaus.

Eigenschaften von Geburtsmodellen, die funktionieren

  • Orientiert sich an der Frauenzentrierten Ideologie (international bekannt als „midwifery model of care“).
  • Hebammenbetreuung für normale Schwangerschaften und Geburten.
  • Wohnortnahe Versorgung.
  • Kontinuierliche Betreuung (1:1 oder Hebammenpraxis) flankiert von kreativer Nutzung angemessener Technologien, um eine normale Geburt zu unterstützen.
  • Bestrebungen, nicht nur Sterblichkeit sondern auch Folgeerkrankungen durch optimale Betreuung zu vermeiden.
  • Sensibilität für die Kultur, die die betreute Frau mitbringt.
  • Ärzte und Spezialisten stehen bereit, um Frauen mit hohem Risiko und bei geburtshilflichen Notfällen zu helfen.
  • Gegenseitiger Respekt und funktionierende Zusammenarbeit zwischen allen Gesundheitsdienstleistern.
  • Rücküberweisung (bedeutet, dass eine Frau, deren Zustand sich normalisiert und die wieder ein geringes Risiko trägt, in die „normale“ Hebammenbetreuung zurückgegeben werden kann.
  • Reflektierter Umgang der Gesundheitsdienstleister mit dem eigenen Handeln, Fehlerreflexion, etc. um Verbesserungen voran zu bringen.
  • Funktionierende Verlegungssysteme von außerklinischen Geburten in die Klinik.
  • Effektive und angemessene Nutzung von Lebensrettenden Maßnahmen wie Kaiserschnitten, etc.
  • Evidenzbasiertes Handeln.
  • Statistisch valide Datenauswertung, die nicht manipuliert ist und ein Funktionieren bestätigt.
  • Verfügbarkeit für Frauen aller Einkommensklassen.
  • Effektive Kommunikationssysteme zwischen allen Beteiligten.
  • Finanzielle Tragfähigkeit, inklusive kosteneffektive Mischung unterschiedlich qualifizierter Gesundheitsdienstleister, Nutzung von Technologien und Ausstattungen, sowie angemessene Bezahlung.
  • Kann als Leitbild für eine zukunftsfähige, beispielhafte und vorbildliche Entwicklung der Menschheit angesehen werden.
  • Replizierbarkeit des Systems in kulturell und ökonomisch ähnlichen Umgebungen.
  • Die Ausbildung der Dienstleister ermutigt und unterstützt alle oben genannten Punkte.
  • Regionale und nationale Organisationen und Kommunikationsnetzwerke unterstützen diese Arbeit, erzeugen politische Unterstützung und unterstützen die Dienstleister in ihrem Bestreben, die Betreuung zu humanisieren.

Zusammengestellt von Dr. phil. Katharina Hartmann Aus: Davis-Floyd, Robbie E., Lesley Barclay, Betty-Anne Daviss & Jan Tritten (ed.): Birth models that work. University of California Press: Berkeley, Los Angeles, London, 2009. Stand: 10/2015

Kontakt: info@mother-hood.de

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