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Gutachterliche Empfehlungen verfehlen das Ziel einer qualitativ hochwertigen Geburtshilfe

Kreißsaalverbot birgt medizinische Risiken. Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen für Schwangere, Neugeborene und ihre Familien. Wegen der Ansteckungsgefahr insbesondere für das Personal schränken Kliniken Besuch stark ein oder verbieten ihn ganz.

Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums: Empfehlungen unzureichend. Mother Hood fordert eine Nationale Strategie gegen akute Missstände.

Bonn, 14. Januar 2020. Das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in Auftrag gegebene und aktuell veröffentlichte Gutachten zur stationären Hebammenversorgung offenbart akute Missstände in der geburtshilflichen Versorgung von Familien. Die darin vorgeschlagenen Maßnahmen laufen dem Nationalen Gesundheitsziel “Gesundheit rund um die Geburt” zuwider. Zu diesem Ergebnis kommt die Bundeselterninitiative Mother Hood e. V. nach Durchsicht des Gutachtens.

“Wir sehen die Missstände in der Geburtshilfe bestätigt, auf die Eltern schon seit Jahren aufmerksam machen”, sagt Katharina Desery vom Mother Hood Vorstand. “Die  Versorgung von Müttern und Kindern ist in einem Land mit einem der teuersten Gesundheitssysteme allenfalls mittelmäßig.”

Deutliche Missstände besonders im Kreißsaal

Die akuten Missstände äußern sich insbesondere in folgenden im Gutachten bestätigten Problemfeldern: fehlende Eins-zu-Eins-Begleitung, Abweisungen von Frauen mit Wehen, Arbeitsbelastung von Hebammen sowie Gynäkologinnen und Gynäkologen und Schwierigkeiten mit der Stellenbesetzung.

Fehlende Eins-zu-Eins-Begleitung

Eine unzureichende Begleitung während der Geburt ist ein vermeidbares Risiko für die Gesundheit von Mutter und Kind.

63 Prozent der Mütter hatten während der Geburt keine kontinuierliche Begleitung durch eine Hebamme. Jede vierte Mutter gab an, die Hebamme habe zu wenig Zeit für sie gehabt.

Vor allem in den von Familien besonders stark nachgefragten Kliniken mit Kinder-Intensivstation, den sog. Level-1-Perinatalzentren, begleitet nur etwa ein Drittel der Hebammen eine Geburt so, wie es laut Experten am sichersten wäre: mit einem kontinuierlichen Betreuungsschlüssel Eins-zu-Eins, das heißt eine Hebamme pro Frau während des gesamten Geburtszeitraums. Mehr als jede vierte Frau muss sich dort eine Hebamme sogar mit drei oder mehr Gebärenden teilen.

Abweisungen von Frauen mit Wehen

Im Jahr 2018 haben mehr als ein Drittel der befragten Kliniken Frauen mit Wehen abgewiesen. Laut Hochrechnung im Gutachten waren somit rund 8.700 Frauen betroffen. Begründet wurden die Abweisungen jeweils zu rund 50 Prozent mit fehlenden räumlichen und personellen Kapazitäten. Insbesondere Perinatalzentren und damit Kliniken für Notfälle mussten besonders viele Frauen wegschicken.

Mother Hood kritisiert, dass im Rahmen der Qualitätssicherung bisher keine Daten zu Abweisungen standardisiert erfasst und ausgewertet werden.

Arbeitsbelastung und Schwierigkeiten mit der Stellenbesetzung

Mehr als die Hälfte der Geburtskliniken berichten von schweren bis sehr schweren Problemen bei der Stellenbesetzung von Hebammen sowie Gynäkologinnen und Gynäkologen. Zwei Drittel der Kliniken begründen die Schwierigkeiten mit der Arbeitsbelastung.

Zufriedenheit der Mütter

Laut Gutachten waren 81 Prozent der Frauen mit der Hebammenbetreuung zufrieden, jede fünfte Frau aber nur teilweise oder gar nicht. Hochgerechnet auf die Geburtenzahl von rund 788.000 Geburten im Jahr 2018 bedeutet das für 150.000 Frauen keine zufriedenstellende Geburtsbegleitung.

Die hohe Zufriedenheit der Mütter sagt nichts über die tatsächliche Versorgungsqualität aus. Das Gutachten weist selbst darauf hin, dass sich die Frauen mit den Hebammen bei spürbarer Arbeitsbelastung solidarisierten. Trotz geringerer Anwesenheit der Hebamme seien Frauen nicht automatisch mit der Hebammenbetreuung unzufrieden.

Vorschläge wissenschaftlich nicht begründet

Das Gutachten schlägt am Ende Maßnahmen für eine bessere Versorgungssituation vor. Dazu zählen weniger Klinikstandorte, höhere Gehälter für Hebammen sowie die Entlastung von fachfremden Aufgaben, wie etwa Reinigungsarbeiten.

“Die Maßnahmen verwalten lediglich den Hebammenmangel, zielen aber nicht auf eine familienzentrierte und qualitativ hochwertige Geburtshilfe”, kritisiert Katharina Desery von Mother Hood e. V. .

Eine bessere geburtshilfliche Versorgung wird nur erreicht, wenn sich Veränderungsprozesse einerseits an den Bedürfnissen von Frauen, Kindern und ihren Familien sowie andererseits an wissenschaftlich begründeten Annahmen orientieren. So gibt es auch das Nationale Gesundheitsziel “Gesundheit rund um die Geburt” vor. Beide Ansätze fehlen im Gutachten.

Das BMG hat bisher die Bedürfnisse von Familien nicht erfasst. Auch die Bewertungsbasis für die vorgeschlagenen Maßnahmen ist wissenschaftlich nicht fundiert. Die Personalvorgaben in der im Gutachten angeführten medizinischen Leitlinie stammen aus dem Jahr 1986 und sind veraltet. Die im Gutachten zugrunde gelegten zumutbaren 40 Autominuten zum nächsten Kreißsaal entbehren ebenfalls einer wissenschaftlichen Grundlage. Auf dieser Basis sind die Vorschläge zur Schließung von Geburtsstationen mit weniger als 600 Geburten im Jahr sowie zur Personalbemessung hinfällig.

Nationale Strategie notwendig

“Eine qualitativ hochwertige Versorgung rund um die Geburt ist größtmögliche Gesundheitsprävention und muss ein gesamtgesellschaftliches Anliegen sein”, betont Katharina Desery. “Daher fordern wir eine Nationale Strategie, mit der die Elternforderungen und jene des Gesundheitsziels Geburt konsequent umgesetzt werden”. Für die Umsetzung hatte Mother Hood im vergangenen Dezember ein Konzept veröffentlicht.

Zu den wichtigsten Forderungen von Mother Hood gehören zum einen wissenschaftlich begründete Standards zu Personalbemessung und Betreuungsschlüsseln. Zum anderen ist ein von Fallpauschalen unabhängiges Vergütungssystem für geburtshilfliche Leistungen nötig, das auch die hohen Vorhaltekosten der Kliniken abdeckt.

Ansprechpartnerin

Katharina Desery
Vorstand und Pressesprecherin
Tel.: 0163/ 7274735
E-Mail: presse(at)mother-hood.de